Gähnen ist ansteckend und hält scheinbar unsere Synapsen im Gehirn auf Trab: Sehen wir jemanden in unserer Umgebung gähnen, fühlen wir uns animiert und tun dies ebenfalls. Je mitfühlender wir sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit. Psychopath*innen, Menschen ohne Empathie, lassen sich hingegen nicht anstecken.
Wir alle gähnen jeden Tag und tun es im Leben um die 250.000 Mal. Bereits das Geräusch, der Gedanke daran oder das Lesen des Wortes kann ein Gähnen bei uns auslösen. Doch welche Gründe und Funktionen sich hinter dem Phänomen verbergen, darüber sind sich Forscher*innen immer noch nicht im Klaren.
Warum wir gähnen müssen, welche Erklärungsansätze es dazu gibt und wann Gähnen als Krankheitssymptom gilt, erfährst Du hier.
Was ist Gähnen?
Gähnen wird als ein unwillkürlicher, natürlicher Reflex auf Anzeichen der Müdigkeit oder Langeweile verstanden. Neben Husten und Niesen gehört das Mund- und Rachenaufsperren zu den Reflexen, die mit unserer Atmung zu tun haben.
Beim Gähnen reißen wir die Kiefer auseinander, atmen tief durch den geöffneten Mund ein und mit einem schnurrenden Geräusch wieder aus. Im Durchschnitt gähnt der Mensch im Schnitt etwa 10 Mal am Tag.
Die Chasmologie ist die Wissenschaftsdisziplin, die sich mit Gähnen beschäftigt. Seit über 30 Jahren widmen sich Forscher*innen dem alltäglichen Phänomen. Doch bis heute ist nicht eindeutig geklärt, warum wir gähnen.
Was passiert in unserem Körper, wenn wir gähnen?
Der Ursprung des Reflexes liegt in unserem Stammhirn, das bei dem Gähn-Vorgang aktiv wird. Der Impuls dafür kommt aus dem limbischen System, einer Funktionseinheit im Gehirn und Sitz der Emotionen. Dort werden unsere Gefühle verarbeitet und das Affekt- und Triebverhalten im Verhältnis zur Umwelt reguliert.
Während wir gähnen, werden nicht nur die Muskeln im Mundbereich angespannt, sondern auch die Muskulatur des Oberkörpers. Unser Zwerchfell hebt und senkt sich, die Brust- und Nackenmuskeln werden fester. Wer es mit dem Gähnen übertreibt, kann sich dabei auch den Kiefer ausrenken. Das passiert aber eher selten. Beim Gähnen steigen auch die Herzfrequenz und die Durchblutung etwas an, eine Art Weckreaktion.
Etwa sechs Sekunden dauert im Schnitt ein Gähnvorgang, der gerne häufiger hintereinander durchgeführt wird. Oft schließen wir dabei unsere Augen, die dabei auch tränen können. In der Regel ruft Gähnen ein angenehmes Wohlempfinden hervor.
Aus gesellschaftlichen Gesichtspunkten haben wir aber auch gelernt, den Reflex zu unterdrücken oder zumindest hinter der Hand zu verbergen. Gähnen kann in gewissen Momenten oder in der Öffentlichkeit als unschicklich gelten. So suggeriert es nach wie vor unserem Gegenüber, dass wir möglicherweise gelangweilt und unaufmerksam sind.
Auch Tiere gähnen und lassen sich von Artgenossen anstecken
Nicht nur Menschen gähnen, auch Säugetiere wie Schimpansen, Hunde oder Katzen tun es und lassen sich ebenfalls gerne von ihren Artgenossen anstecken. Schimpansen und Hunde animiert bereits das Geräusch vom Gähnen dazu, selbst zu gähnen. Eine intensive persönliche Bindung zwischen Mensch und Hund zeigt auch einen ansteckenden Effekt. Aus welchem Grund Tiere gähnen, haben Wissenschaftler*innen bisher aber auch noch nicht herausgefunden.
Ursachen: Warum gähnen wir?
Sind wir müde, hungrig, gestresst oder einfach nur gelangweilt, reißen wir unseren Mund weit auf und gähnen. Es gibt viele Auslöser, die uns zum Gähnen veranlassen.
Der Mythos, dass Gähnen eine Reaktion auf einen Sauerstoffmangel im Blut sei, wird inzwischen ausgeschlossen, weil sogar Fische und Säuglinge im Fruchtwasser beim Gähnen beobachtet wurden. Welche Funktionen und Gründe könnten sich hinter dem natürlichen Reflex verbergen?
Schützt Gähnen vor Überhitzung des Gehirns?
Einige Forscher*innen vermuten einen Zusammenhang zwischen Gähnen und Körpertemperatur. Steigt die Temperatur in unserem Gehirn um 0,1° Celsius an, arbeitet es sofort etwas weniger. Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass das Gähnen dazu dient, unser Gehirn zu kühlen und mit Sauerstoff zu versorgen, damit es zuverlässig weiterarbeiten kann.
Der Evolutionsbiologe und Chasmologe Dr. Andrew Gallup von der State University of New York at Albany beschäftigt sich mit dieser Funktionalität des Gähnens. Ihm zufolge sorgt Gähnen für einen Wärmeaustausch im Kopf, um das Gehirn zu kühlen und damit eine optimale Denkleistung zu gewährleisten.
Wenn wir beim Gähnen den Mund weit öffnen, strömt kühle Luft in die Atemwege und kühlt die anliegenden Blutgefäße, welche daraufhin kühleres Blut in die Hirnregion weiterleiten. Im Austausch wird gleichzeitig Wärme an die Luft abgegeben, die wir ausatmen. Auf diese Weise können wir unser Gehirn wieder auf Betriebstemperatur bringen.
Wissenschaftlich erwiesen ist die Tatsache, dass unser Gehirn zum Abend hin wärmer wird, quasi heiß gelaufen ist, wir daher müde werden und gähnen müssen. Abends benötigt unser Gehirn scheinbar am meisten Kühlung.
Halten wir uns einen kalten Lappen an die Stirn, gehen im Winter an der frischen Luft spazieren oder duschen uns kalt ab, gähnen wir so gut wie gar nicht und behalten einen kühlen Kopf.
Psychische Stress- und Angstzustände sorgen ebenfalls dafür, dass sich unser Gehirn erhitzt und dadurch der Gähn-Reflex ausgelöst wird.
Neue Energie tanken dank Gähnen?
Tiefes Einatmen durch Gähnen soll die Durchblutung im Gehirn verbessern. Dr. Andrew Gallup spricht dem Prozess des Gähnens daher eine ähnlich positive Wirkung zu wie das Dehnen unserer Muskulatur. Dehnungen bewirken, dass die Blutzirkulation in den Muskeln steigt und dadurch die Muskulatur mit mehr Sauerstoff und Glukose und damit mit neuer Energie versorgt wird.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Stress und Gähnen?
Kurz vor und kurz nach dem Schlaf gähnen Menschen am häufigsten, aber auch große Herausforderungen und Aufregung scheinen den Reflex auszulösen. Es wurde beobachtet, dass Fallschirmspringer und Bungee-Springer kurz vor dem Sprung gähnen.
Müdigkeit oder Langeweile dürfte in solchen Momenten nicht der Auslöser sein. Das wirft aber die Frage auf, ob Gähnen das Erregungsniveau hochhalten oder dem Stressabbau dienen soll? Hilft uns Gähnen, mit psychischer Spannung umzugehen?
Stress gilt tatsächlich als zuverlässiger Auslöser für vermehrtes Gähnen. Das erklärt auch die Tatsache, dass Menschen vor Wettkämpfen, Prüfungen oder in Extremsituationen ständig gähnen.
Je nachdem, ob wir Müdigkeit in bestimmten Momenten als stressig empfinden, wirkt sich das scheinbar auch auf die Häufigkeit des Gähnens aus. So macht es einen Unterschied, ob wir in einem Gespräch nicht unhöflich sein möchten oder wir eine langweilige und monotone Situation überstehen müssen. Dann fühlen wir uns von der Müdigkeit gestresst, müssen eher vermehrt gähnen und geraten dadurch in eine unangenehme Lage.
Anders sieht es hingegen aus, wenn wir müde sind und uns einfach über die Müdigkeit freuen können, weil wir uns gleich zum Schlafen gemütlich ins Bett legen können. In so einem Fall würden wir wohl weniger gähnen.
Ansteckende Wirkung des Gähnens
Laut einiger Studien lässt sich jeder zweite Mensch vom Gähnen anstecken, weshalb Forscher*innen auch davon ausgehen, dass sich dahinter eine zwischenmenschliche Funktion verbirgt. Sie vermuten, dass durch das gemeinsame Gähnen eine unbewusste Identifikation mit anderen stattfindet und man sich verbunden fühlt.
Es konnte auch eine Verbindung zwischen der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen und seiner Anfälligkeit für eine Ansteckung nachgewiesen werden. Demnach lassen sich besonders empathische, verständnisvolle und mitfühlende Menschen zum Gähnen animieren. Warum ist das so?
Wissenschaftler*innen sehen einen Zusammenhang zwischen dem Phänomen Gähnen und sozialer Nähe. Gähnen soll bei uns sozialen Wesen das Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Gruppe stärken. So lassen wir uns von nahestehenden Freunden und Familienmitgliedern oder Menschen, die wir sympathisch finden, leichter anstecken, als von Fremden.
Gähnen ist ansteckend – außer bei Psychopath*innen
Im Umkehrschluss scheinen gefühlskalte, empathielose Psychopath*innen hingegen immun gegen das Phänomen Gähnen und Ansteckung zu sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine veröffentlichte Studie der amerikanischen Baylor Universität: Je weniger Empathie bei Menschen vorhanden ist, desto weniger wird mitgegähnt.
Unter Psychopathie verstehen Wissenschaftler*innen eine antisoziale Lebensweise. Charakteristisch dafür ist ein egoistisches, manipulatives, impulsives, furchtloses und herrschsüchtiges Verhalten.
Seelisch kranke Menschen, die sich nicht in Mitmenschen hineinversetzen können, wie es z.B. bei Schizophrenie der Fall ist, lässt das Gähnen anderer Personen ebenfalls kalt. Ebenso konnte bei autistischen Kindern beobachtet werden, dass sie beim Ansehen von Videos mit gähnenden Menschen nicht mitgähnen.
Auch wenn Studien eindeutige Ergebnisse liefern, sollten nicht alle Menschen, die sich nicht vom Gähnen ihrer Mitmenschen mitreißen lassen, als Psychopath*innen abgestempelt werden. Bei Fremden oder bei unsympathischen Menschen gähnen wir ebenfalls weniger mit. Die emotionale Nähe zum Gähnenden hat scheinbar eine entscheidende Auswirkung darauf, wie sehr wir uns davon anstecken lassen.
Gruppendynamik und Synchronisation als Ursache für das Mitgähnen?
Ein weiterer Grund für die hohe Ansteckungsrate von Gähnen sehen Forscher*innen darin, dass bei sozialen Wesen, die in einer Gruppe leben, der Drang besteht, die Gruppe im Alltag zu synchronisieren, um den Zusammenhalt zu gewährleisten.
Im Jahr 1894 beobachtete der Völkerkundler und Mediziner Karl von den Steinen die Bakairi, ein indigenes südamerikanisches Volk. Wurde den Angehörigen des Stammes in Gesprächsrunden das Gerede zuviel, gähnten sie kollektiv ohne die Hand vor den Mund zu nehmen. Der wohltuende, ansteckende Effekt des Gähnens wurde sehr deutlich. Nach und nach standen die Stammesmitglieder auf und entfernten sich vom Ort des Geschehens, weil sie alle müde wurden und schlafen wollten.
Wären nur einzelne Menschen müde und andere ziehen hellwach weiter, würde die Gruppe auseinanderfallen und sich möglicherweise vermehrt Gefahren aussetzen. Das zeigt, wie wichtig die Synchronisation innerhalb einer Gruppe ist.
Ansteckung durch Spiegelneurone im Gehirn?
Neurowissenschaftler*innen gehen auch davon aus, dass die ansteckende Wirkung mit sogenannten Spiegelneuronen in Zusammenhang stehen. Dabei handelt es sich um Strukturen in unserem Gehirn, die uns dabei helfen, das Verhalten unseres Gegenübers zu verstehen und einzuordnen. Die speziellen Nervenzellen lassen uns dann das Verhalten anderer Personen direkt nachahmen.
Schon bei Säuglingen sorgen die Spiegelneurone dafür, dass Babys lachen, wenn sie von einem Elternteil angelacht werden oder auch mitweinen, wenn jemand weint. Das verdeutlicht ebenfalls die besondere Bedeutung der emotionalen Nähe oder Bindung zwischen zwei Menschen. Auch bei gähnenden Affen wurde ersichtlich, dass sie mehr gähnten, wenn sie ihre Artgenossen dabei ertappten.
Häufiges Gähnen als Krankheitssymptom
Müssen wir ständig gähnen, ist es meistens ein Ausdruck der Übermüdung und Erschöpfung. Gähnen gehört als natürlicher Reflex zum Leben dazu und nur in seltenen Fällen kann übermäßiges häufiges Gähnen als Symptom auf eine andere Erkrankung hinweisen. Folgende Erkrankungen oder Störungen können sich dahinter verbergen:
- Schlafmangel
- Stress
- Psychische Erkrankungen: Depression, Drogenentzug
- Neurologische Erkrankungen: Multiple Sklerose, Schlaganfall (Apoplex), Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Migräne
- Strahlentherapie
Gähnen in Zusammenhang mit ständiger und sehr ausgeprägter Müdigkeit weist auf eine Vielzahl an Erkrankungen hin, die von einem Arzt oder einer Ärztin abgeklärt werden sollten. Die Gründe für die ausgeprägte Müdigkeit können sein:
- Ungesunde Lebensweise: Bewegungsmangel, Übergewicht, Alkohol, Stress
- Schlafstörungen: Ein- und Durchschlafstörungen, Schlafapnoe
- Psychische Beschwerden: Depression, Ängste, Burnout-Syndrom
- Nährstoffmängel: Eisen, Vitamin-D, Vitamin-B12
- Anämie (Blutarmt)
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Blutdruckschwankungen von niedrigem Blutdruck (Hypotonie) zum Bluthochdruck (Hypertonie), Herzschwäche (Herzinsuffizienz), Herzrhythmusstörungen
- Infektionen
- Krebserkrankungen
- Chronisches Müdigkeitssyndrom (Fatigue)
Ausführliche Informationen über die Ursachen und Therapiemöglichkeiten rund um das Thema Müdigkeit findest Du hier.
Häufiges Gähnen als Nebenwirkung von Medikamenten
Viele Medikamente und verschiedenen Substanzen können Gähnen begünstigen. Häufig sind es sedierende Arzneien, die unsere Körperaktivitäten dämpfen und das Bewusstsein trüben, z.B. Opioide. Weitere Medikamente, die mit Gähnen einhergehen können:
- Antidepressiva: Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)
- Levodopa (L-DOPA): Restless-Legs-Syndrom, Morbus Parkinson, Schizophrenie
- Dopaminagonisten: Morbus Parkinson
- Opioide: Morphin, Methadon
- Angstlösende, sedierende, muskelentspannende Benzodiazepine
- Betäubungsmittel: Lidocain
- Antiarrhythmikum gegen Herzrhythmusstörungen
6 Tipps gegen Gähnen in unpassenden Momenten
Müdigkeit und Gähnen sind keine gute Kombination, wenn wir in bestimmten Situationen mit Wachheit und Konzentration glänzen sollten. Was kannst Du tun, wenn sich während einer wichtigen Präsentation oder eines Dates der Gähn-Reflex bemerkbar macht? Folgende Tipps können der Retter in der Not sein:
- Zungenspitze kurz antippen
- Kaltes Glas Wasser an Stirn und Nacken halten und trinken
- Tief durch die Nase einatmen
- Kurz in die Hand husten
- Fenster aufmachen und lüften
- Zähen zusammenbeißen